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Die Düsseldorfer Photoschule

In ihren Anfängen in den 60er Jahren nur müde belächelt, ist die heute nicht mehr wegzudenkende „Düsseldorfer Schule“  ein enorm wichtiger Bestandteil in der Entwicklung der Fotografie und der Kunstgeschichte.

Begründer und Protagonisten dieser neuen Form der Fotografie und später anerkannten Kunstform sind Bernd und Hilla Becher, ein heute international renommiertes Fotografen-Ehepaar (Bernd Becher † 22. Juni 2007, Hilla Becher † 10. Oktober 2015) Womöglich habt Ihr schon von der „Becher-Schule“ gehört – ein gern verwendetes Synonym für die Düsseldorfer Schule. Mit ihrer damals völlig neuen fotografischen Herangehensweise prägten sie eine der wahrscheinlich wichtigsten Stilrichtungen der Kunstgeschichte, dessen Vertreter und Erben heute auf dem Kunstmarkt Höchstpreise mit ihren Werken erzielen.

Was macht nun die Düsseldorfer Schule aus? Zur Entstehung ist ein kurzer Blick in das damalige Landschaftsbild des Ehepaars unablässig:

Bernd Becher verbrachte seine Kindheit und Jugend im ältesten Industriegebiet Deutschlands, dem Siegerland. Seine visuelle Umgebung bestand primär aus den massiven Bauten der damals vorherrschenden Schwerindustrie – die Landschaft war durchpflügt von Kohlekraftwerken, Hochöfen, Fördertürmen, Kieswerken, Kühltürmen, Silos und auch Bunkern. In den 60er Jahren kam der Strukturwandel – und damit eine gravierende Veränderung dieses Landschaftsbildes: Die Kohle- und Stahlindustrie litt zunehmend unter dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel und war von Stilllegung und Abriss betroffen.  

Düsseldorfer Photoschule

Bernd und Hilla Becher wollten nicht zulassen, dass „ihre“ Industriearchitektur einfach verschwindet und fühlten sich verpflichtet, die architektonischen Zeugen der Zeitgeschichte fotografisch festzuhalten. Mit einer unglaublichen Akribie begann das Ehepaar, die Zweckbauten abzulichten. Wichtig war ihnen dabei der dokumentarische Charakter ihrer Arbeit:

So wie sie waren, sollten die monumentalen Motive auch abgelichtet werden. Jedes Stilmittel, das der Verschönerung oder Verfremdung diente, wurde streng vermieden. Nebensächlichkeiten wie Farbe, Spiegelungen und Unschärfe waren tabu. Der einzige Zweck - die fotografische Archivierung - durfte durch nichts gestört werden.

Die äußere Form der Architektur war maßgeblich, unbeeinflusst vom Menschen und von Naturphänomenen wie Licht und Schatten. Diese wurden am besten ausgelöscht, indem das Ehepaar ihre Belichtungen gern bei diesigem Wetter im Frühjahr oder Herbst machten, wo sich der Lichteinfluss gut reduzieren ließ. Fotografiert wurde mit Großbildkameras, um möglichst viele Details herauszuarbeiten, und mit Belichtungszeiten zwischen 10 Sekunden und einer Minute, meist aus leicht erhöhter frontaler Perspektive. Hierbei war das Ehepaar mit einigen Herausforderungen konfrontiert – manchmal mussten sie auf baufällige Kräne oder andere Gebäude steigen, mal über Zäune.

Mit dieser Perspektive wollten die zwei einen möglichst starken Eindruck von ihren Motiven erzeugen, die Gebilde für sich selbst sprechen lassen. Perspektive als Stilmittel zu benutzen, kam nicht in Frage.

Industriearchitektur

Schon früher in seiner Malerei achtete Bernd Becher auf eine möglichst reale Wiedergabe seiner Motive, wobei er merkte, dass die Malerei - so wirklichkeitsgetreu wie sie sein mag - stets einen Interpretationsspielraum offenlässt. Dieser war nun eher Störfaktor als akzeptierte Untreue in der Wirklichkeitsdarstellung. Und als es darum ging, das von der Zerstörung bedrohte Kulturgut auf Papier festzuhalten, wechselte er nach und nach und schließlich komplett zum fotografischen Handwerk, da nur dieses dem Tempo der Abrisswelle zuvorkommen konnte – es ging einfach viel schneller.

Herausgelöst von allem was stört, stellten die Bechers die Gebäudeteile je nach Bedarf auch frei – dies galt als einzig zulässiges Stilmittel, um sich vollkommen auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Und nur so konnte nach Meinung der beiden das Motiv zu 100% seine eigene Geschichte erzählen. Komplett auf ihr Ziel fokussiert, die vom Abriss bedrohte Industriearchitektur für die Geschichtsbücher zu bewahren, vermieden beide gewollt eine subjektive Sichtweise und Emotionalität bei ihrer Arbeit. Diese hätten nur von der präzisen Wirklichkeit abgelenkt.

Die unzähligen Aufnahmen, die mit unermüdlicher Stringenz entstanden, wurden nach Werkgruppen (also z.B. Hochöfen, Kühltürme, Silos etc.) unterteilt, diese wiederum sortiert nach Baumaterial – also Gebäude aus Stein, Beton, Holz etc.  Danach wurden aus ähnlichen äußerlichen Formen oft Typologien (Tableaus aus mehreren sich stark ähnelnden Bauwerken) produziert. Ihr könnt Euch vorstellen, dass für den aufmerksamen Betrachter bei genauerem Hinsehen die feinen Unterschiede sichtbar werden und eine gewissen Ästhetik zu erkennen ist, obwohl die Funktionalität und damit verbundene Objektivität der Aufnahmesituation absolut im Vordergrund stand. Ebenso entscheidend war die Vielfalt der Objekte – manche Bauten wurden durch den geschulten Blick als unpassend aussortiert. Auch die individuellen Eigenheiten der Motive entdeckten und erlernten die zwei erst im Laufe ihrer Arbeit – „learning by doing“ würde man heute sagen.

Bernd und Hilla Becher - Düsseldorfer Photoschule

Die Becher-Schule

Genauso ungekünstelt hielten es die Bechers in ihrer Lehrtätigkeit: War man Becher-Schüler, durfte man - der damals vorherrschenden Zeitgeistes sowieso nicht entsprechenden Fachausbildung – nicht erwarten, eine grundlegende technische Ausbildung zu bekommen. Weder Kamera noch technische Herangehensweisen an ein Objekt wurden erklärt, weiß Boris Becker zu berichten – der Fotograf lernte von 1984 bis 1990 in der Düsseldorfer Schule. Anhand von vorhandenen Arbeiten wurden Dinge wie Licht, Perspektive und Motivauswahl kurz besprochen und Tipps gegeben. Meist waren die Schüler sich selbst und ihrer Arbeit überlassen.

Das Miteinander war damals ein ganz anderes als heute – von intensiven und persönlichen Gesprächen geprägt. Konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten an einem bestimmten Ort gab es nicht – wohl aber eine große Ernsthaftigkeit bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk. Man traf sich hierzu häufig bei dem Ehepaar zuhause oder in örtlichen Lokalen. Es wurde viel über Bildende Kunst und über Malerei gesprochen und diskutiert, weniger über Fotografie an sich. Diejenigen, die von sich überzeugt waren und sich mit ihrem Thema durchboxen wollten, kamen weiter und wurden im künstlerischen Rahmen auch unterstützt. Ja, so einfach war das....

Die persönliche Beziehung zwischen den beiden Lehrern und ihren Schülern entsprach voll und ganz dem alten Meisterklassenprinzip – die Schüler orientierten sich stark an ihrem Mentor und setzen sich intensiv mit ihm auseinander – um sich nach und nach von ihm zu lösen. So war Bernd Becher der Überzeugung: „Man muss seinen Vater umbringen...“. Er wollte nicht, dass seine Schüler ihn einfach nur nachahmten.

Auch der Umgang mit den Schülern in punkto Strenge und Klarheit zeigte Parallelen mit ihrer Arbeitsweise. Wenn Bernd Becher, der 1976 als erster Professor für Fotografie an die Kunstakademie Düsseldorf berufen wurde, ein Werk seiner Schüler missfiel oder er nichts damit anfangen konnte, wurde die Arbeit mit radikaler Nichtbeachtung als natürliche Reaktion bestraft. Dem entgegen stand  - einer weit verbreiteten Vorstellung zum Trotz – dass die beiden durchaus nicht ebenso nüchterne und stoische Menschen waren wie sie ihren Arbeitsmodus lebten, im Gegenteil. Nicht nur Boris Becker erinnert sich an viel Selbstironie, Witz und Charme. Und lauter komische Situationen wie diese: In einer  damaligen Sitzung des Kulturausschuss zum Thema 150 Jahre Fotografie kam allerlei Hektik auf, man müsse sich beeilen, dieser bedeutende Tag rücke schnell näher. Bernd Becher warf in die Runde ein, man wisse doch seit 150 Jahren, dass die Fotografie nun 150jähriges Jubiläum feiere. Das sei doch eine beachtliche Zeit um sich vorzubereiten....

Sich selbst nicht zu ernst nehmen – daran war dem Ehepaar viel gelegen. Ihre dokumentarische Fotografie - heute ihr Lebenswerk - nahmen sie enorm ernst. Obwohl sie mit ihrer eigenartig, gar fremd anmutenden Art des Fotografierens damals viel Ablehnung begegneten. Keinen interessierte hierzulande die Fotografie, doch als Bernd in Düsseldorf die ausgebildete Fotografin Hilla traf, entstand eine zunehmend enge Zusammenarbeit die ein ganzes Leben lang dauern sollte.

Während in Deutschland der Durchbruch, der eigentlich gar keiner werden sollte, noch auf sich warten ließ und die Entwicklung der Fotografie als Kunstform viel langsamer war als anderswo, erhielten die beiden mit ihrem wissenschaftlich-künstlerischen Wirken im Ausland frühzeitig Anerkennung in der Kunstszene, so z.B. in den USA, Frankreich, England. Ein für die Anerkennung wichtiges Ereignis war sicherlich der Goldene Löwe auf der Biennale in Venedig, der den Bechers in der Kategorie „Skulpturen“ überreicht wurde.

Anonyme Skulpuren

Auch wenn die Bechers ursprünglich stringent der dokumentarischen Erhaltung von historisch bedeutendem Kulturgut nachgingen, haben sie sich später gern in den Kontext der Bildenden Kunst einordnen lassen und sich darin auch wohl gefühlt. Zu dem Zeitpunkt war Bernd Bechers konzeptuelle Fotografie, die Wassertürme in seiner Heimat Siegerland schon Vergangenheit. 

Ausstellungen, Veröffentlichungen in Kunstzeitschriften, Bücher und andere Printmedien verhalfen den beiden zu steigender Anerkennung, nicht nur international. Doch ließen sich Bernd & Hilla Becher nie Vorgaben machen, sondern verzichteten lieber auf ein Projekt, wenn es nicht ihren Vorstellungen entsprach. Dieses Selbstbewusstsein zog sich durch das gesamte Leben und Wirken des Ehepaars.

In der Becher-Schule haben heute international renommierte Künstler ihre Anfänge, die die meisten von Euch sicher kennen und deren fotografisches Werk heute in internationalen Auktionen passionierten Sammlern und namhaften Institutionen mehrere Millionen Euro wert ist. Somit galt die Becher-Schule als wahre Talent-Schmiede: Thomas Ruff, Gursky, Candida Höfer, Thomas Struth und Axel Hütte – sie alle erlebten einen wesentlichen Einfluss des Ehepaars.

Nun kann man über den Becher’schen Mythos streiten: Heute verbinden viele Menschen die Werke der obigen „Becherschüler“ fälschlicherweise immer noch mit dokumentarischer Fotografie à la Becher, klagt Boris Becker. Viele Arbeiten von Gursky, Höfer und Struth haben jedoch eigentlich nichts mehr zu tun mit typischer Becher-Fotografie, in ihren Bildern spielen oft Inszenierung und Manipulation eine wesentliche Rolle.

Ruff stellt sogar mit seinen „Nudes“   provokant die Präzision von dokumentarischer Fotografie in Frage, indem er Gesichter stark verpixelt und dies auch dokumentarisch-objektiv nennt, weil es denselben Wirklichkeitsgehalt habe. Fast alle diese Becher-Schüler haben also einen eindeutigen Bruch mit ihren Meistern vollzogen und peu à peu ihren ganz eigenen Stil entwickelt.

Wahrscheinlich auch, weil ihnen die strikte Herangehensweise nicht lag und ihnen eine gewisse Interpretationsoffenheit fehlte. Vieles wird nach wie vor deren Arbeiten hereininterpretiert oder auch aus einem nostalgischen Hype heraus einfach kommuniziert, so Becker.

Das Maß an Becher’schem Einfluss in den einzelnen Werken ist natürlich nicht eindeutig benennbar. Oft wird die heutige Arbeitsweise der ehemaligen Schüler mit typischen Becher-Attributen in einen Topf geworfen - diese Erfahrung hat Boris Becker vor nicht allzu langer Zeit in Istanbul gemacht und ist sichtlich genervt, wenn er davon erzählt: Als er für Projektionen zu seinem aktuellen Gemeinschafts-Projekt „Urbane Landschaften“ gutes Licht einfangen will, wird er mit prompt mit einem Kommentar angesprochen, das sei ja ein schönes Becher-Licht. „Ganz davon abgesehen, dass das überhaupt nicht zutraf, ist dieses „Schubladendenken“ schon manchmal anstrengend“, so der Fotograf.

Auf die Frage nach dem Mythos „Becher“ lässt sich feststellen, dass die Düsseldorfer Schule oder eben Becherschule einfach einen so prägnanten Ruf wie keine andere im 20. Und 21. Jahrhundert hatte und nach wie vor hat. Die Absolventen werden heute noch als „Schüler“ betitelt, manches Mal darauf reduziert so scheint es – obwohl einige die 70 und 80 Lebensjahre längst überschritten haben.

Natürlich helfe es andersherum auf dem Kunstmarkt, wenn man als Becher-Schüler bekannt ist weiß Boris Becker. Dieser „Titel“ gelte als klares Markenzeichen und ist allerorts ein Begriff. Die Besonderheit der Becherschule im Vergleich mit anderen exzellenten Schulen, wie z.B. in Essen oder Leipzig sei zweifelsohne fester Bestandteil in der Kunstgeschichte, dennoch habe sie ihre Geschichte hinter sich.

Die Düsseldorfer Schule entsprang auch nicht einfach dem Verlauf der Dinge, sondern entwickelte sich auch aus der neuen Sachlichkeit: Diese nüchterne Stilform gab es in der Fotografie schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wichtige Vertreter war z.B. August Sander, der mit seinen distanziert wirkenden, strengen Portraitreihen Bernd Becher stark beeinflusste.

Sander zeigte die Menschen ungeschönt und ebenfalls mit einer gewissen Akribie, welche die wirklichkeitsgetreue Darstellung seiner Motive zum Ziel hatte. Hier bekommt Ihr einen Eindruck von seinen Portraits. Die Parallele zu den Bechers ist offensichtlich.

Derartige Strenge hatte in der Fotografie schon Tradition - bekannte Namen wie Karl Blossfeldt, der die Fotografie lediglich für die detailgetreue Abbildung von Pflanzen als Arbeitsmaterial nutzte, und Walker Evans mit seinem formal-authentischen Bildstil folgten der dokumentarisch wirkenden Art des Festhaltens von Realität.

Auch die in den 30ern entstandenen sachlichen, von allem Nebensächlichen losgelösten und so sehr klar wirkenden Fotografien von Renger-Patschz weisen Parallelen auf und haben die Becherschule mit beeinflusst.

Die Becherschule ist also nicht aus sich selbst entstanden, sondern war und ist auch ‚nur’ Teil der kunsthistorischen Entwicklung, eines normalen geschichtlichen Verlaufs.

Was also können wir für uns aus dieser Lehre ziehen? Boris Becker rät, das zu tun, was einem am Herzen liegt und nicht dem Kunstmarkt oder einer anderen Meinung über sein Sujet mit einer vermeintlich guten Strategie hinterher zu rennen. Ernsthaftigkeit und Kontinuität sind ebenfalls eines der Attribute, die Becker selbst auszeichnet und ihm viel Anerkennung beschert. Konsequent und unbeirrt weitermachen und auch ausprobieren, ohne eine spätere Strategie z.B. für die klare Positionierung auszuschließen. Die einzige Strategie der Bechers damals war die Strategie der sich arbeitstechnisch und finanziell ergebenden Möglichkeiten: Das Ehepaar musste einfach auf günstige Gelegenheiten warten – wie z.B. die Veröffentlichung ihrer Bilder in einer Kunstzeitung oder das mehrmonatige Stipendium in England, das ein wahres Geschenk für die beiden war und sie zusätzlich in ihrer Mission bestärkten.

Wenn Ihr einen ganz persönlichen Einblick in das Leben von Hilla und Bernd Becher bekommen wollt, dann schaut mal unsere Interview-Reihe mit Hilla Becher an.

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13. Dezember 2014 - 10:03

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